Nahe der Grenze
Leseprobe
Die Zeit von 1904 – 1906
Am vierten September des Jahres 1904 bäumte sich der Sommer noch einmal mit Macht auf, bevor er das Feld dem Herbst überlassen musste. Die Natur zeigte kein Erbarmen mit der Gebärenden, die in der stickigen Hitze der Schlafkammer auf dem Bett lag.
In das ausgemergelte Gesicht, das im Kopfkissen versank, zeichneten sich Erschöpfung und Schmerz. Magdalenas Haarzopf hatte sich aufgelöst und klebte ihr strähnig am Kopf. Ihr langes Nachthemd, das sich über dem Bauch spannte, war von Schweiß durchtränkt. Wie eine alles vernichtende Welle schlug der Schmerz in immer kürzer werdenden Abständen über ihr zusammen. Die schwer herzkranke Magdalena stöhnte unter den Geburtswehen und hechelte nach Luft. Das zurückgeschlagene Federbett, dessen Federn mit den Jahren verklumpt waren, lastete auf ihren Füßen. Die Hebamme tupfte den unaufhaltsam fließenden Schweiß von Magdalenas Gesicht.
„Du schaffst das schon, hast es doch schon neunmal hinter dich gebracht“, machte sie der Vierzigjährigen Mut.
Die Schlafkammer war angefüllt mit einem Kleiderschrank, einem Waschtisch, auf dem eine Keramikschüssel mit einem Krug Wasser stand, und dem Ehebett unter der Dachschräge. Der betagten Hebamme blieb wenig Raum, sich zu bewegen. Sie hatte es in der Enge schwer, Magdalena beizustehen. Auch ihr standen die Schweißperlen auf der Stirn.
Magdalena kämpfte nun schon seit Stunden. Das Kind in ihrem Bauch wollte sich einfach nicht drehen. Ihre Schwägerin Anna stieg immer wieder die schmale Holztreppe hoch, die unter ihr ächzte, als klage sie mit der Gebärenden. Sie wollte wissen, ob denn das heiße Wasser noch immer nicht benötigt wurde.
Derweil ging Magdalenas Mann Georg bei seiner Schwester unten in der Küche auf und ab. Dann setzte er sich und stierte vor sich hin, um alsbald wie ein Stehaufmännchen seine Wanderung wieder aufzunehmen.
Die Kinder saßen erstaunlich ruhig um den Tisch. Angst schien alle zu lähmen, der Geburtsvorgang dauerte schon zu lange. Qualvolle Stunden reihten sich aneinander, ehe der Schrei des neuen Erdenbürgers zu hören war und alle erlöst aufatmeten.
Es war ein Mädchen mit einem Kopf voller schwarzer Haare, das die Hebamme Magdalena in den Arm legte, nachdem sie es gewaschen hatte. Georg trat an das Bett seiner Frau; verlegen strich er über ihr schweißnasses Haar.
„Es tut mir leid, Magdalena, ich verspreche, dass du solche Qualen nicht noch einmal aushalten musst“, flüsterte er ihr zu.
Die Geburt hatte Magdalena an den Rand des Abgrunds gebracht, sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Doch die Hausarbeit wartete darauf, von ihr erledigt zu werden, und zehrte an ihren letzten Kräften. Das mühselige Wasserschleppen vom Dorfbrunnen nach Hause übernahmen zwar meist die Kinder, doch allein das Kochen und Waschen für die große Familie ließ Magdalena bei ihrem Tun oft stöhnend innehalten.
Am Abend, wenn die Sonne ihre letzten Strahlen auf die Erde sandte und sie dem Zusammenbruch nahe war, gönnte sie sich ein halbes Stündchen vor dem Haus, in dessen Hof ein großer Nussbaum Schatten spendete. Hinfällig und gebrechlich saß sie darunter auf der Bank, gekleidet in ein hochgeschlossenes, knöchellanges Kleid, auf dem sie stets eine Schürze trug. Die schwieligen Hände hielt sie im Schoß gefaltet und betete, dass ihr Gott Kraft geben möge für den nächsten Tag. Ihr Mann kam aus dem Haus, las ein paar Nüsse vom Boden auf und setzte sich zu Magdalena. Er wusste, wie gerne sie Walnüsse aß, drum knackte er einige und legte sie ihr in die Hand.
Katharina, ihre Älteste, kümmerte sich derweil um Bertha; so hieß das Mädchen, das so lange gebraucht hatte, das Licht der Welt zu erblicken. Bertha schrie oft, weil sie hungrig war. Die Muttermilch, mit der Magdalena ihre Kleinste nährte, war für Bertha zu wenig und für Magdalena zu viel. Schon nach wenigen Wochen versiegte sie.
Magdalena wurde zusehends schwächer, ihr Herz hielt keiner Belastung mehr stand. Katharina war dreizehn Jahre alt und Marie zehn, als sie schon die meisten Pflichten im Haushalt übernehmen mussten.
Als Bertha zwei Jahre alt war, starb die Mutter. Katharina und Marie, denen sie wenigstens noch mit Rat hatte zur Seite stehen können, fühlten sich nach ihrem Tod verlassen und hilflos. Georg konnte nicht begreifen, dass seine Magdalena von ihnen gegangen war. Sie war mit ihren zweiundvierzig Jahren doch noch viel zu jung. Er haderte mit sich und der Welt. Als tiefgläubiger Mensch vertraute er aber darauf, dass er sich Gottes Willen fügen müsse und er ihn leiten würde.
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