Geschichten aus Rom

Leseprobe

Galleria Spada

"Do ut des" und "Species fallit"
Gib, damit Dir gegeben wird / Der Schein trügt


„Bleiben Sie vor mir stehen“, sagte der Mann, der sich neben mich in den Seitengang gestellt hatte. Ich war so verdutzt über seinen unerwarteten Befehl, dass ich tat, was er wünschte. Vom Hauptgang her drang eine energische Frauenstimme bis zu uns:
„Dino, senti, ich lese dir vor: Die Ausstellungsräume der Galleria Spada befinden sich im Palazzo Capodiferro-Spada, einem schmuckreichen Renaissance-Stadtpalast, der seit 1927 Sitz des italienischen Staatsrates ist. Im zweiten Obergeschoss befindet sich eine reiche Gemäldesammlung mit Werken des 17. Jahrhunderts.“ Sie rezitierte immer weiter laut und vernehmlich aus dem Reiseführer, ohne zu bemerken, dass sich ihr Mann gar nicht mehr an ihrer Seite befand.
Die Dame war mir kurz zuvor schon aufgefallen. Sie schien das Regiment in dieser coppia zu führen, blieb doch ihr Mann neben seiner lauten Frau mehr oder weniger unauffällig. Fast amüsiert hatte ich beobachtet, wie er ihr Schritt auf Schritt folgte, treu ergeben, als fixiere ihn ein unsichtbarer Magnetfaden.

„Bleiben Sie bitte vor mir stehen! Bitte, ich möchte wenigstens für einen Moment ganz für mich alleine sein!“, bat er flehentlich in gutem Deutsch, wobei sein italienischer Akzent deutlich zu hören war. Ich betrachtete den überschlanken Mann nur einen kleinen Moment, er tat mir leid. Und so beschloss ich, die Farce mitzuspielen.

„Ich kenne einen Weg nach draußen“, flüsterte er mir hastig zu.
„Schnell, schnell, sie kommt näher!“
Unsere konspirative Flucht mündete zunächst in den Eingangsbereich. Dann ging es hinaus in den Hof. Dort ergriff er ohne Zögern meine Hand und führte mich an jenen Ort, an dem er ohne seine Frau sein wollte, zur perspektivischen Spielerei, die Francesco Borromini eigens für den Kardinal Bernardino Spada entworfen hatte. Dort blieb er stehen, blass vor Ergriffenheit. Er stand so dicht vor der Glasscheibe, dass sich sein Hauch darauf abbildete.

„Schauen Sie, wie einmalig diese Architektur ist, die Marsstatue da hinten erscheint groß und unendlich weit entfernt. Wissen Sie, sie ist nur knapp einen Meter hoch, und wissen Sie, der Durchgang ist nur neun Meter lang!“ Er war ganz aus dem Häuschen und völlig verzückt.
„Schauen Sie, schauen Sie, wie er das gemacht hat, der Meister Borromini, wie er die Säulen nach hinten verkleinert hat! Genial, einfach genial.“
„Nicht nur das ist genial!“, sagte ich beiläufig. Mir war ja bekannt, dass die Illusion der Galleria durch mehrere Faktoren hervorgerufen wird, und ich hielt mich nicht mit der mathematischen Konstruktion des Säulenganges auf. Stattdessen machte ich eine kleine Bemerkung zu der Statue, zu dem kleinen Kriegsgott, der in kämpferischer Pose so niedlich offensiv agiert.
„Ja, richtig, das tut er! Er macht eine ausschreitende Vorwärtsbewegung. Und seine Faust ist demonstrativ emporgereckt“, ergänzte er lächelnd mit fast ehrfurchtsvoller Deutung.
„Könnte aber auch nur drohend gemeint sein, nackt mit dem Helm, so wie er dasteht“, spöttelte ich. Und dann setzte ich im gleichen Ton, aber sehr spitz und leicht abwertend hinzu, dass dieser kleine Kriegsgott sich gut als Wappenfigur für die Schutzgeld-Mafia machen würde, oder dass man ihn auch geschäftsbelebend vor einem bestimmten Etablissement der Rotlichtszene postieren könne.
Diesen beißenden Spott schien er ungehörig zu finden, was mich noch mehr erheiterte. Ich lachte laut auf.
„Warum lachen Sie?“, fragte er, und ein bisschen Empörung war schon seiner Stimme zu entnehmen.
„Ach wissen Sie, diese Herren Kardinäle aus dem Barock wussten sehr genau über martial-erotische Effekte Bescheid, immerhin ist Mars der Geliebte von Venus. Der hohen Geistlichkeit waren ja zumindest nach außen hin Grenzen gesetzt. Wie gut, dass sich Lüsternheit hinter antiken Göttern, Bibel­darstellungen oder gemarterten Heiligen verbergen konnte.“ Ich wurde ernst. Und das spürte er.
„Ist Ihnen nie aufgefallen“, fuhr ich fort, „wie oft Personen im Barock nackt dargestellt werden? Mich entsetzt immer wieder diese schreckliche Doppelmoral, die der Klerus ganz besonders hier in Rom praktiziert hat und es auch heute in manchen Bereichen noch tut. Oder meinen Sie, es war in Ordnung, dass die Kardinäle im Barock fürstlich lebten, Geliebte und Kinder hatten und gleichzeitig Bauersfrauen, Mütter, Männer als Hexen oder Magier unschuldig auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließen?“
Er schwieg.
„Borromini, der Urheber dieses Kunstwerkes, hat meiner Meinung nach diesen optischen Scheinriesen, den dieser kleine Kerl da am Ende des Ganges vorgeben muss, nicht ohne Hintergedanken genau hier in Rom platziert“, erklärte ich sehr langsam.
„Sie meinen, er wollte damit etwas ganz Anderes zum Ausdruck bringen als lediglich eine verzerrte Darstellung zu demonstrieren?“
„Ja“, fuhr ich fort. „Ich meine, dass er nicht nur das Phänomen der visuellen Täuschung darstellen und offenbaren wollte.“

Er schwieg, betrachtete noch einmal sehr intensiv das architektonische Kunstwerk und lief dann in den Orangengarten hinaus. Ich folgte ihm. Der süße, intensive Duft der Orangenblüten überwältigte mich. Ich war süchtig danach, konnte mich kaum vom ersten Baum losreißen.
Immer wieder steckte ich meine Nase in eine geöffnete Blüte und atmete das köstliche Aroma in tiefen Zügen ein. Glücksgefühle durchströmten mich. Und ich vergaß die Galerie und die in meinen Augen ärgerliche Diskussion.
Der Mann beobachtete mich, setzte sich dann auf ein Mäuerchen in die Sonne und schien auf mich zu warten. Ohne zu zögern setzte er den Disput fort.
„Was, meinen Sie, wollte Borromini denn noch zum Ausdruck bringen?“, fragte er übergangslos.
„Was vermuten Sie?“, gab ich die Frage zurück, indem ich die Betonung auf das „Sie“ legte.
Er starrte in den Himmel, kniff die Augen zusammen und meinte zögernd: „Trucco!“
„Ja“, antwortete ich, „der Trick ist sicherlich ein wichtiger Aspekt. Ich würde es aber viel härter benennen.“
„Ja, und wie?“, wollte er wissen.
„Heuchelei, Lüge, oder noch schlimmer: Betrug!“, entfuhr es mir fast böse.
Die Sonne schien mir direkt ins Gesicht und ich fand einen Schattenplatz unter einem ausladenden Orangenbaum, der in voller Blüte stand. Ich dachte an das große Unrecht, das der Klerus hier in Rom im Namen der heiligen katholischen Kirche begangen hatte. Das rötliche Gebäude des Ufficio im Vatikan kam mir in den Sinn, in welchem so viele Menschen durch die Marter der Inquisition geschickt worden waren, bis man das gebratene Menschenfleisch in der Stadt riechen konnte. Wie viel Lüge, Intrige und Betrug waren Grundlage für Denunziation und Anklage?
Und dieser Spada, der einstige Besitzer dieses Palazzo, dieser ehrgeizige, aber durch große Mittelmäßigkeit glänzende Kardinal, er war ein Meister der Intrige gewesen.
„Borromini hat sich selbst getötet, wussten Sie das?“, fragte ich den Unbekannten. Er nickte und ergänzte wissend, dass der Künstler Depressionen hatte.
„Ha“, lachte ich, „Depressionen waren zu seiner Zeit eine gefährliche Erkrankung, sie waren der Gottlosigkeit oder Gottferne gleichzusetzen, da der Mensch den Glauben, die Hoffnung und die Liebe verloren hatte. Ich denke, Borromini hatte keine Depressionen, er hatte einfach alles satt, die Kämpfe, diese ganzen Kabalen um ihn herum, die Rivalität mit Bernini, all das hat ihn zermürbt. Das ist meine Meinung. Die Kirche akzeptierte die Diagnose Nervenkrämpfe als Erkrankung, und so konnte er auf einem geweihten Friedhof begraben werden und nicht fuori le mura. Erinnern Sie sich an den kleinen Mars mit der erhobenen Faust? Es heißt, er habe ein Schwert gehalten. Und Borromini hat sich ins eigene Schwert gestürzt. Genau genommen hätte er also gar nicht in geweihter Erde begraben werden dürfen. Warum geschah es doch?“, wollte ich von ihm wissen und sah ihn fragend an. Er hob die Schultern.
Plötzlich dachte ich an die Frau, vor der er geflüchtet war, die wohl immer noch in der Gemäldegalerie nach ihrem verschollenen Mann suchte. Und dann kam mir wieder in den Sinn, auf welch abenteuerliche Weise ich hierhergekommen war.
„Woher“, fragte ich ihn beiläufig, „woher kannten sie eigentlich den Geheimausgang?“
„Ach, mir sind die Pläne bekannt“, gab er zu. „Ich weiß übrigens auch, dass im Garten ein Versteck ist. Haben Sie Lust zu suchen?“
„Nein.“ Ich hatte keine Lust.
Was sollte ich hier finden wollen, was hätte ich finden können? – in diesem Palazzo, in diesem Garten residierte einst der imposante Bernardino Spada, Kardinal, Barockfürst, Mäzen. Guido Reni hatte ihn gemalt. Ein schöner Mann mit eleganten Lippen und männlichem Kinnbart. Er hatte das Leben eines klerikalen Barockfürsten gelebt und sicherlich nichts ausgelassen. – Nein, es interessierte mich nicht, was er versteckt haben könnte.
„Do ut des!“, sagte er da plötzlich.
„Ich gebe, damit du gibst!“, konterte ich. Und fügte äußerst patzig hinzu:
„Wieder so eine jesuitische Wortverdrehung. Wieder so eine Lüge, wieder so eine Heuchelei. Wie wird dieser Spruch übersetzt? EINE HAND WÄSCHT DIE ANDERE. Dahinter verbirgt sich knallhartes Vorteilsdenken, Bestechung, Korruption. Dieser Spruch dreht die Bezüge um. Er lässt Kleines groß und Großes klein erscheinen. Es ist die Seligsprechung der Käuflichkeit. Der Leitspruch dieses gutaussehenden, imposanten Kardinals Bernardino Spada mit seiner zahlreichen buckligen Verwandtschaft, die alle einen guten Posten erwarteten, das war genau dieses DO UT DES. Wissen Sie, dass die Vielzahl seiner Neffen der Grund war, weshalb man ihn niemals zum Papstkandidaten machte? Die Bestechungen wären dem Vatikan zu teuer gekommen. So schlicht und einfach ist die Realität. Ja, dieser Spruch DO UT DES hat einen ethisch hohen Sinn. Aber er wurde pervertiert und nun passt er genau zu diesem scheinheiligen Klerus. – Borromini hat das alles gewusst. Die Scheinheiligkeit, diese Größenverdrehung, diese Blickfängerei, das war seine Botschaft, die er in und hinter seiner architektonischen Form verbarg. Schaut hin, schaut doch richtig hin, seht ihr denn nicht, dass alles Fake ist, Lüge, bloßer Schein, seht ihr das denn nicht? Ich spüre ihn förmlich, diesen Meister, dem Bernini immer wieder so übel mitgespielt hat!“
Ich hatte mich in Rage geredet. Und er saß auf dem Mäuerchen, grinste, wusste, dass er mich mit dem Leitspruch des kunstsinnigen Kardinals Bernardino Spada geködert hatte.
„Sagen Sie mal, was wollen Sie eigentlich von mir?“, fuhr ich ihn sehr unhöflich an.
„Sie packen mich, zerren mich über einen Geheimgang zur Galleria und dann hierher und fragen noch nicht einmal, ob ich das will. Sie stellen sich mir nicht vor, erwarten von mir Stellungnahmen und über all dem lassen Sie Ihre Frau da oben alleine und empfinden noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei.“
Erst in diesem besonderen Moment besah ich mir den Mann genauer. Er war etwa fünfzig Jahre alt, er war größer als ich ihn ursprünglich wahrgenommen hatte, in seinem Gesicht bildete ein dunkler Spitzbart einen markanten Eckpunkt und seine Augen blickten mich mit bemerkenswerter Klugheit an.
Irgendwie sah dieser Mann jemandem ähnlich.
Er schien meine Gedanken lesen zu können. Langsam erhob er sich, öffnete den Stein, auf dem er gesessen hatte, und entnahm dem Zwischenraum ein kleines Schwert, das er mit seiner Faust umschloss und in die Luft reckte.
„Nihil tale est, quale videtur“, kommentierte er meine Nachdenklichkeit leise. „Nichts ist, wie es scheint!“
„Species fallit“, erwiderte da mit klarer Stimme seine blonde Frau, welche, wie aus dem Nichts kommend, plötzlich hinter ihm stand: „Der Schein trügt!“
Fast gleichzeitig drängte sich eine ärgerliche Männerstimme in den Vordergrund:
„Signora, bitte stehen Sie auf, die Galleria Spada wird geschlossen!“ Mit diesen Worten half mir ein Museumsangestellter von der Bank.
Ich musste offensichtlich eingeschlafen sein. Nihil tale est, quale videtur. Nichts ist, wie es scheint.

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