Eine Frau allein auf dem Jakobsweg. 1000 Kilometer Magie und Abenteuer

Leseprobe

Von Blasen und anderen Wehwehchen...

Nein, ich bin keine Heulsuse, kein Jammerlappen und kein Weichei. Es mag ja sein, dass einem echten Pilger ein paar Blasen an den Füßen durchaus zur Zierde gereichen, aber gleich so viele? Die Wanderschuhe sind zwar noch nicht wirklich gut eingelaufen, aber meine Füße beklagen sich auch in eingetragenen Joggingschuhen, wenn ich ihnen eine längere Laufzeit zumute. Das Problem ist folgendes: Ich gehe gern und auch lange – nur meine Füße nicht! Dabei schenke ich ihnen wirklich genug Aufmerksamkeit! Morgens und abends werden sie gecremt und massiert. Ich führe eine üppige Ausstattung an Salben, diverser Spezialpflaster und Tape mit – im Vergleich dazu sind die Pflegeprodukte für den übrigen Körper auf das absolute Minimum begrenzt. Doch meine Füße nehmen mir das Laufen auch noch mit viel zu schwerem Gepäck gleich doppelt übel. Ich habe versucht, nichts Überflüssiges mitzunehmen und auf jegliche Luxusartikel zu verzichten. Aber bereits die gefüllten Wasserflaschen und der Proviant wiegen drei Kilo. Mehr als 15 Kilogramm schleppe ich so über die Steilküste, denn ich bin auch noch mit Zelt, Isomatte und einem dicken, schweren Schlafsack für frostige Nächte ausgerüstet.


Die Vorstellung, in Herbergen mit mir völlig fremden Menschen auf engstem Raum die Nacht zu verbringen, eingehüllt in warme Schwaden verbrauchter Luft und schweißiger Socken, vielfaches Schnarchen, Seufzen und Atmen, verursachte mir schon zuhause schlaflose Nächte. Das Zelt versprach eine gewisse Unabhängigkeit und Sicherheit. Doch durch das hohe Gewicht bekomme ich schon nach wenigen Stunden am ersten Tag zusätzlich Belastungsschmerzen in den Hüftknochen. Vollkommen unterschätzt habe ich die Tatsache, dass das Tragen eines Rucksackes insbesondere in bergigem Gelände die übliche Laufgeschwindigkeit deutlich reduziert. Mehr als drei Kilometer in der Stunde schaffen wir in der Anfangszeit nicht. So sind wir am ersten Tag fast 11 Stunden unterwegs bis wir vollkommen erschöpft in der ersten Herberge eintreffen.


So extrem anstrengend hatte ich mir das nicht vorgestellt! Nach drei Tagen schicke ich Zelt und Isomatte per Post nach Hause und reihe mich mit Ohrstöpseln ausgerüstet in die Reihen der Schnarcher ein. Irgendwie gehört das Übernachten in den Herbergen dann doch zum Pilgerleben. Nur wenn diese überfüllt sind oder es die Umstände erforderlich machen, genieße ich den Luxus einer kleinen Pension. ...

 

Von Einsamkeit und Alleinsein

Du hast mich heute gefragt, ob ich nicht einsam sei. Das bin ich nicht. Denn ich bin ganz bei mir und ihr seid ganz bei mir. Ich denke oft an euch. Vieles unterwegs sehe ich mit euren Augen, erinnere mich an eure Vorlieben und Abneigungen. Manchen Augenblick und manche Erlebnisse würde ich gern mit euch teilen. Ich fühle mich euch näher als manchmal im Alltag. Die Menschen, die ich am meisten liebe, fehlen mir nicht. Sie sind bei mir. Meine Seele und mein Denken sind erfüllt von ihnen.


Ich bin nicht einsam. Ich bin allein, und das bin ich im Moment sehr gern. Oft treffe ich unterwegs keinen anderen Pilger, übernachte auch in den Herbergen allein. Es ist eine sehr intensive Zeit mit mir selbst. Für jede kleine oder große Entscheidung trage nur ich die Verantwortung und auch die Konsequenzen. Ich empfinde es als Freiheit, keine Absprachen treffen, keine Rücksichten nehmen zu müssen. Es gibt niemand, auf den ich achten muss, niemand für dessen Wohlergehen ich verantwortlich bin. Zum allerersten Mal in meinem Leben kann ich mich ganz auf mich konzentrieren. Es geht mir gut, so ganz allein mit mir selbst. Ich lebe mein eigenes Tempo. Beim Aufstehen, Laufen, Essen. Bleibe stehen, um Kleinigkeiten oder großartige Aussichten zu genießen. Entscheide für mich, welchen Weg ich einschlage und kann nur mich selbst anknurren, wenn mir meine Wahl einige Kilometer Umweg einträgt. Ich lerne wieder, auf mein Gefühl zu achten und keine Angst vor Fehlentscheidungen zu haben. Es gibt niemand, der mich dafür zur Rechenschaft ziehen könnte. Ich lerne aus meinen Fehlern, lerne umzukehren und einen neuen Weg zu suchen, lerne, dass keine Entscheidung unwiderruflich ist. Ich vertraue mir und erlebe eine große Gelassenheit im Umgang mit mir selbst. Jeder Schritt – auch in die falsche Richtung – bringt mich näher zu mir. Ich empfinde eine große Kraft und Zuversicht. Ich muss nicht perfekt sein. Es gibt keine Angst, zu versagen. Jeder Tag hält ein gutes Ende für mich bereit. Davon bin ich überzeugt. Auch wenn ich manchmal müde und erschöpft bin, fühle ich mich nie wirklich am Ende meiner Kräfte. Wir können so viel mehr aushalten, als wir uns selbst zutrauen!

Ich erlebe viele kleine Freiheiten in diesen Tagen des Alleinpilgerns. Im Alltag wird so viel Selbstbeherrschung von uns erwartet. Wir schämen uns für unpassende Gefühlsausbrüche, schlucken Worte, die uns auf der Zunge liegen, sprechen Gedanken nicht aus. Wir sind selten wirklich wir selbst, meist tragen wir die Maske dessen, was wir sein möchten oder verkörpern die Person, für die andere uns halten. Die Meinung unserer Mitmenschen ist uns über die Maßen wichtig. Wir verlieren uns selbst bei dem Versuch, einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Lange Jahre habe ich meine Gefühle als Schwachstelle erlebt. Sie waren die Achillesferse in meinem Panzer. Durch sie war ich immer verletzlich. Also habe ich versucht, eine Mauer um meine Seele zu bauen, um sie zu schützen. Ich habe Gefühle unterdrückt und Gleichgültigkeit vorgetäuscht. Mein inneres Wesen war wie erstarrt, ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Meine Lebensfreude und mein Lachen hatte ich beinahe ganz verloren. Ich habe lange gebraucht, um diese Mauer Stein für Stein wieder zu lockern und zu erkennen, dass meine Fähigkeit zu fühlen und diese Gefühle auch zu zeigen, mich stark und reich macht. ...

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